Sonntag, 11. August 2019

Wandel

Auf meinem täglichen Gang zur Arbeit fiel es mir plötzlich auf. Es wirkte so staubig, die spitzenverzierten Gardinen so alt und verbraucht. Früher waren sie wohl einmal sehr schön gewesen. Aber die Blumen wirkten noch frisch und lebendig. Aus den Augenwinkeln sah ich noch, wie eine fleckige, rotgeäderte Hand eine kleine Messingkanne bewegte.
Von da an warf ich öfter einen Blick zur Seite, wenn ich vorbeieilte, um den Bus zur Arbeit zu erreichen. Eines Morgens ließen auch die Blumen ihre Blätter hängen, die Blüten vertrockneten. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf, hundert Möglichkeiten. Zehn Gründe, nichts zu tun.
Ab dem nächsten Tag hatte ich Urlaub. Ich wollte nicht wegfahren, hatte nichts geplant, nahm mir aber vor, nach dem Fenster zu schauen; doch ich verschob es von Mal zu Mal. Und hatte ein immer schlechteres Gewissen mir gegenüber. Drei Wochen später war es soweit. Arbeitsbeginn. Ich war nicht einmal dort gewesen, doch jetzt ging ich früher los. Am Fenster blieb ich wie angewurzelt stehen. Nichts interessierte mehr. Das Fenster war leer. Immer noch staubig und verdreckt, leer. Keine Gardinen mehr, keine Blumen. Ich trat näher heran, versuchte einen Blick ins Innere zu erhaschen. Die Blümchentapete war vergilbt, helle Flecken, wo Schränke gestanden hatten. Ich war bedrückt, beschämt, hatte das Gefühl, zu spät gekommen zu sein. Auf der Arbeit sehr unkonzentriert. Eine Zeitlang hastete ich, ja rannte nur so am Fenster vorbei, um nicht die Einsamkeit zu sehen.
Bis wieder mal etwas meinen Schritt stocken ließ. Das Fenster war geputzt. Lustige Windowcolor zierten das Glas. Ein nachtblaues Rollo war heruntergezogen, gelbe Sterne glitzerten in der Morgensonne. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Der Bus zur Arbeit war uninteressant. Eine schmale, junge Hand zog die Jalousien hoch, gab den Blick frei auf eine Babywiege, ein Mobile, hellgelbe Tapeten. Ich lächelte. Ich sang. Das Leben ging weiter. Alles war gut. 

18.06.2003 

1 Kommentar:

  1. Hallo Anja. Ich bin durch einen Kommentar zum Gdl Streik auf Instagram hierhergestoßen (kurzum furchtbar zufällig).
    Ich habe mir alle deine Beiträge durchgelesen und sie berühren mich. lade doch mal wieder etwas hoch. Ich würde mich sehr darüber freuen. Und ich habe vor allem das Gefühl (ohne dich zu kennen, es ist nur ein Gefühl), dass es dir gut tun würde.
    Ich hoffe, dass es dir gut geht und wünsche dir das Beste. Du warst, bist und wirst nicht allein sein.
    Galigrü :)

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